Ausgedient, egal …
In Wien gibt es Sammelstellen für Kleider von „Humana“. Was man nicht mehr anziehen will, wirft man durch die Klappe der großen Holzboxen hinein – es wird von der Organisation abgeholt, sortiert und verteilt, zum Teil sogar wieder verkauft.
Genauso eine Humana-Box, in etwa mannshoch, wurde jetzt schräg gegenüber meiner Haustüre aufgestellt und hat in mir zwiespältige Erinnerungen geweckt.
Es war an einem sehr heißen Sommertag vor zwei Jahren, als ich in unserem Grätzl mit meiner Tochter über den Kirchplatz spazierte. Der Platz war dicht bevölkert, auf den Banken saßen Frauen, strickten und unterhielten sich dabei, und am Platz spielten viele Kinder mit Bällen, Springschnüren und Dreirädern.
Auf einer dieser Parkbänke schlief ein Mann mitten in dieser Idylle, aber in der prallen Sonne. Schon von Weitem sah ich ihn und wunderte mich, dass er mitten in dem Trubel voller Kindergeschrei, mit strickenden Frauen links und rechts, schlafen konnte. Er musste wohl sehr müde gewesen sein, doch ich nahm mir vor, ihn zu wecken und auf eine Parkbank zu lenken, die wenigstens im Schatten stand. Ich wollte ihn davor bewahren, gerädert und mit Sonnenbrand und -stich aufzuwachen.
Aus kürzerer Entfernung sah ich, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte. Seine Arme waren seltsam verdreht, und seine Hautfarbe zu dunkel, eigentlich fleckig. Sein Mund stand weit offen. Tot?
Ich stellte mich schon auf Erste Hilfe ein, doch als ich bei ihm stand, wusste ich, dass es dafür schon lange zu spät war. Er war mit Totenflecken übersät.
Ich wandte mich an die Frauen daneben. „Haben Sie gesehen, dass dieser Mann tot ist …?“, fragte ich fassungslos. Achselzucken war die Antwort und: „Der pennt schon ewig da.“
Ich musste nur die Straße überqueren, um zur Polizeistation zu gelangen. „Da liegt ein Toter im Park …“, musste ich den schwitzenden Beamten bei seinem Mittagessen unterbrechen. Er zog sich die Jacke an und kam mit.
Die Frauen strickten noch immer ungerührt, die Kinder spielten unbeeindruckt.
Ich war entsetzt – und ging, nachdem der Beamte den Notarzt gerufen hatte, ziemlich bedrückt weiter.
Als ich mich nochmals umdrehte, sah ich, dass der Polizist seine Jacke über das Gesicht des Toten gelegt und sein Jausenbrot wieder aus der Hosentasche gezogen hatte. Auch die Frauen achteten auf weiter nichts als ihre Strickmuster.
Einige Wochen später stand in der Zeitung: „Tote hing stundenlang in Humana-Sammelbox“. Wieder in unserem Grätzel hatte eine Frau etwas aus dem Altkleidercontainer herausfischen wollen, der schwere Holzdeckel war ihr auf den Kopf gefallen und sie war gestorben. Am Abend wurde sie von Spaziergängern „gefunden“; gestorben war sie allerdings am frühen Nachmittag. Und die beschriebene Humana-Box steht nicht an einem einsamen Platz, sondern in einer Einkaufsstraße, vor einem Gemeindebau.
Ich habe diese Erinnerungen glücklich verdrängt, bis eben die Humana-Sammelbox vor meiner Tür aufgestellt wurde. Und immer wieder bin ich froh, im Ländle und in der heilen Welt aufgewachsen zu sein. Ich rege mich schon lange nicht mehr über den Tratsch auf, der mich in meiner Jugend dort immer so sehr störte. Denn auch Tratsch ist ein Zeichen, dass man sich für seine Mitmenschen interessiert und ich traue mich fast zu wetten, dass gerade die beiden Todesfälle im Ländle anders abgelaufen wären.
Täusche ich mich?