Eiskalt und weiß

Jetzt sind sie alle aus dem Haus. Sie haben einen längeren Weg als ich, denn sie nehmen die Gondel zur Bergkapelle. Ich werde von meinem Bruder mit dem Auto hin­auf­ge­fah­ren, und mein Bruder, der ein lässiger Typ ist, hat an­ge­kün­digt, dass er etwas später kommt.

Die Art-Déco-Ohrringe, die mir meine Mutter kurz vor dem Abschied unter Tränen geschenkt hat, hätte ich jetzt gern getragen, aber sie passen nicht zum Kleid. Meine Schuhe sind bequem, darauf habe ich beim Kauf geachtet, denn ich soll sie ja den ganzen Tag über bis in die Nacht tragen. Jetzt sollte ich ein Lied singen, mir einen Auf­tritt auf einer der großen Bühnen vor hohem Publikum aus­denken, so, wie ich jetzt angezogen bin. Mindestens Barbra Streisand oder Liza Minnelli. Mir fällt aber keine Melodie, kein Text ein. Also streife ich durch das Haus, „Abschied“, denke ich und fühle es nicht. Gar nicht.

Was soll ich tun, bis mein Bruder kommt? Mich nur nicht schmutzig machen, bloß nicht jetzt das Kleid rui­nie­ren. Am besten setze ich mich auf die Ofenbank. Ich schal­te den Fernseher ein und zappe in eine Do­ku­men­ta­tion. Da sitze ich nun in der letzten Stunde meines ledigen Da­seins im schönsten und teuersten Kleid, das ich je ge­tra­gen habe, alleine und steif auf der unbeheizten Ofen­bank und sehe fern. Wie unromantisch. Wie verbringen andere diese letzte Stunde? Warum muss ich ausgerechnet jetzt an Do­sto­jewskis Idioten denken, und an die Szene in Victor Hugos letzten Tag eines Verurteilten, wo der De­lin­quent die kalte Schere im Nacken und an den Ohren spürt?

Ich bin nicht nervös, mir ist nicht mulmig, ich bin nur leer und werde in etwa einer Stunde vor Gott verheiratet sein. Mir jetzt noch einmal überlegen, ob ich wirklich will? Zu spät. Weiter driften meine Gedanken zurück, nur in die letzten Wochen, aber, eben: Jetzt ist es zu spät. Die Entscheidung ist getroffen. Ich habe sie getroffen.

Wenn mein Bruder kommt, muss ich nur nach mei­nem Täsch­chen greifen und ins Auto steigen. Die Wale im Fernsehen drehen sich im Kreis, sie jagen in der Grup­pe, treiben einen Fischschwarm zu­sam­men. Span­nend. Da dabei sein, jetzt! Unter Wasser filmen, mit tau­chen we­nig­stens! Da wäre ich aufgeregt und aus dem Häus­chen. Jetzt bin ich das nicht, jetzt heirate ich. Stille in mir, maximal ein glatter Sinuston, mittelhoch. Ich frage mich nichts mehr, das wird der Pfarrer machen.

Ein Auto fährt zu und hupt. Mein uncharmanter läs­si­ger Bruder: Nicht, dass er aussteigt, mich abholt, mich in meinem schönen Kleid zum Auto geleitet, mir noch einen brüderlichen Kuss gibt, mich lange und innig umarmt, mein Aussehen und meine Tugend lobt und mir erzählt, wie schön seine Kindheit mit mir als kleiner Schwes­ter war. Denn es ist so: Er ist mein Kumpel. Das ist sehr viel, aber mehr auch nicht.

Kumpels schieben ein­an­der am Fluss Blindschleichen unter das T-Shirt und verlassen sich darauf, dass der andere das gelassen nimmt, sich eine gute Retourkutsche überlegt und damit Ge­schich­ten erschafft. Kumpels schenken einander extra scharf geschliffene Mes­ser, die man sich beim Spielen und Baumklettern offen an einer Schnur um den Hals hängt, damit sie immer griff­bereit sind.

Und nichts passiert.

Ich setze mich zu ihm ins Auto und er sieht mich an, als gingen wir nur schnell ge­mein­sam Lebensmittel ein­kau­fen. Nichts Besonderes.

Mamas Blumenschmuck auf der Mo­torhaube ist mir pein­lich, doch mein Kleid ist atem­be­raubend. Und er hat nichts dazu gesagt.

Ich spüre, dass wir spät dran sind, und sehe dis­zi­pli­niert nicht auf die Uhr: Jetzt ist es zu spät, um noch nervös zu werden. Mein Bruder verfährt sich in den vielen Kehren und Abzweigungen auf dem Berg, muss halsbrecherisch um­drehen, Wanderer fragen, wie man denn zu der Kapelle da drüben kommt – ja genau, die dort drüben auf der an­de­ren Sei­te des Tales, wir sehen sie genau, die an der Lich­tung. Er wird missmutig, fängt an zu schimpfen, ich hätte ihm den Weg besser notieren sollen, das sei ja wieder ein­mal typisch für mich. Es ist mir egal, ich antworte nicht. Das wundert ihn, ich spüre seinen langen Blick von der Sei­te, der nach vorn gerichtet sein sollte auf dieser schma­len Bergstraße, über die wir förmlich fliegen und Staub­wol­ken hinterlassen wie Lucky Luke, wenn er mit dem Zi­ga­ret­tenstummel im Mundwinkel durch seine Comics reitet. Ich verbeiße mir ein Lachen.

Eine kleine Debatte würde meinen Bruder jetzt sicher beruhigen, aber ich habe keinen Platz in mir für Ge­schimp­fe und keine Energie für treffende, schneidende Wor­te. Ich habe keine Lust, meinem Bruder böse zu sein, ich liebe ihn. Ich sehe aus dem Fenster und genieße es, in mir und mit mir allein zu sein.

Wir kommen an, fast eine halbe Stunde zu spät, der Pfarrer ist in Aufregung, der Bräutigam den Tränen nahe. Ogottogott. Die Entscheidung zum „Ja“ habe ich ge­trof­fen, doch so ein Theater, so ein aufgeregtes Herumflattern wollte ich nie, das war mir bereits als Kind peinlich und hielt mich immer schon vom Wunsch der kleinen Mäd­chen, wie Barbie und Ken zu heiraten, ab. Ich bin die Coo­le. Die sich stoisch die Blindschleiche aus ihrem Ausschnitt fischt und dem Bruder, ohne zu zögern, vorne in die Bade­hose steckt, und den davor gefangenen nass­kal­ten Frosch dazu, denn eine Blindschleiche allein wäre zu wenig an Ver­geltung. Mein Bruder ist der, der schreit. Der Andere. Nicht ich.

Und jetzt kommt doch noch ein Lied in mir auf. Zwar nicht in der Bergkapelle, aber jetzt, in diesem Moment, wo ich mich erinnere: Es sind Maria und Tony, die in der Schneiderwerkstatt der West­side Story miteinander Hochzeit spielen, genauso wie Oliver und ich, damals, auf dem Dachboden der Schule. Meine Schultasche blieb unbeaufsichtigt im Stiegenaufgang und verriet den anderen unser Tun.

Make of our hands one hand, make of our hearts one heart.
Make of our vows one last vow; only death will part us now.
Make of our lives one life. Day after day, one life.
Now it begins, now we start: one hand, one heart. Even death won
t part us now.

Das ist das Gefühl, das ich hätte haben sollen, wollen, auf dem Berg und davor. Und danach. Ich hatte es aber nicht und wundere mich selbst, immer noch.

Als wir bereits die Ringe tragen und Schorsch das Ave Maria singt, fange ich entgegen meiner Überzeugung an, „Bitte mach …“-Gebete zum Himmel zu schicken. Das habe ich mir vor langer Zeit verboten, denn Gott ist keine Sparkasse. Gott macht nicht, wie und was ich will: Sein Wille geschehe, nicht meiner, auch nicht ein bisschen, auch nicht, wenn und weil ich besonders brav war, und auch nicht „nur einmal“, nicht „nur kurz“, nicht „nur noch dies­mal“. Er hat einen großen Plan, er weiß, was er tut und was er mir zumuten kann. Ich treffe meine Ent­schei­dun­gen und er passt sie in sein Gesamtkonzept ein.

Aber das ist meine Hochzeit, und da darf man sich etwas wünschen, immerhin habe ich mich entschieden, das Sakrament zu empfangen und nicht nur schnöde am Stan­des­amt zu unterschreiben. Ich meine das, wofür ich mich entschieden habe.

Und ich wünsche mir jetzt vor dem Altar, dass Gott macht, dass wir ein ruhiges Leben haben und Alex mich nicht mehr schubst und anschreit. Ich wünsche mir, nicht aus Eis zu sein, oder wenigstens, dass mir Gott erklärt, warum ich mich jetzt nicht euphorisch fühle wie als Kind zu Weihnachten, wie nach Antonias Geburt, wie nach der letzten Prüfung auf der Universität, wie nach dem Mil­lio­nen­vertrag in der Agentur. Bitte mach, dass ich wieder Ge­füh­le bekomme und sie nie mehr verliere, und schon ist das Lied der flehenden Jungfrau vorbei. In der Kapelle bleibt es noch andächtig still, ein paar Sekunden lang. Schorsch wischt sich die Tränen von den nassen Wangen, denn er hat während des Singens geweint.

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, gleich zu Ma­ria zu beten, die ist immerhin auch eine Frau und ver­steht mich besser als der vielbeschäftigte all­wis­sen­de pla­nen­de Gott. Und falls es keinen Gott gibt und keine Maria, so be­schwöre ich noch kurz zur Sicherheit die Allmacht, das Schicksal, das Universum, mein Karma und meine eigenen Wünsche.

Ein paar Tage später. Wir schicken uns an, über die Stra­ße zu unserem Wohnhaus zu gehen. Ich schaue nach links und dann nach rechts.

„Du musst nicht schauen, das mache ich jetzt für dich! Jetzt bist du schließlich verheiratet!“ , sagt er und es klingt ärgerlich.

Ich sehe ihn an: Ich muss lachen. Er meint es ernst.

„Ich habe vor dem Altar meine Freiheit aufgegeben, nicht mei­nen Verstand. Man schaut doch automatisch, be­vor man eine  Straße überquert!“, entgegne ich immer noch grin­send und spüre gleichzeitig, dass er meine Ant­wort als grob und verletzend empfindet.

Er sieht mich lange und nachdenklich an.

Eiskalt und weiß
It takes a great man to be a good listener.”
Calvin Coolidge, 30. Präsident der Vereinigten Staaten (1872-1933)
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