Meine erste Lesezeit war geprägt von Mira Lobe, Otfried Preußler, Erich Kästner, Mark Twain und Enid Blyton. Sobald ich es einigermaßen beherrschte, musste ich pro Woche ein Buch lesen, mindestens. Hanni und Nanni, die kleine Hexe, Fünf Freunde, Nesthäkchen, Tom Sawyer und viele andere mehr stehen jetzt noch in unserem Kinderbücherregal, genau meine Ausgaben von damals. Die wollte ich niemals hergeben. Ich stellte mich krank, um nicht in die Schule zu müssen, weil mir die Sammelbände von Hanni und Nanni wichtiger waren – 2 Einzelbände pro Tag, einen vormittags und einen nachmittags. Und nach vier Sammelbänden à drei Einzelbänden, also nach sechs Tagen, war ich gesund.

Allen meinen Töchtern habe ich bis in ihr erstes Lesealter abends immer vorgelesen und jedes Buch besorgt, das sie haben wollten.

Nur, meine Kinder, die lesen nicht.

Kinderbücher lesenJahrelang machte ich mir Sorgen, weil sie nicht und nicht bereit waren, mal eines unserer Bücher in die Hand zu nehmen und einfach selbst zu lesen. Süffisante Fragen von Bücherfreunden und besorgte Fragen der Großeltern bezüglich ihres Leseverhaltens musste ich oft abwehren und habe schließlich akzeptiert, dass besonders die Jüngeren einfach keine Leser sind, dass ein Bücherwurm eben nicht unbedingt Bücherwürmer hervorbringt. Mit vielen und langen Gedanken nach dem Grund.

Lesen die Kleinen wirklich nicht?

Meine Jüngste konnte schon vor Schulbeginn lesen. Woher, wusste ich lange nicht. Und auf wundersame Weise macht dieses Kind bei Ansagen und Diktaten in der Schule keine nennenswerten Rechtschreibfehler, und das, obwohl wir so gut wie nie ihre „Lernwörter“ üben. Das ist ihr zu langweilig. Sichtlich hat sie ein gutes Sprachgefühl (genetisch?!?). Auch meine mittlere Tochter liest flüssig, mit auffallend schöner Wortmelodie und mit dem Ton dessen, der versteht, was er gerade liest. Wie kann das aber sein, wenn sie meine geliebten Bücher doch so verschmähen? Ein Gespräch mit der Ältesten, die zu meiner Ehrenrettung ein Bücherwurm war und ist, macht mir einen flauen Verdacht:

Bücher? Computer. Medien!

Die beiden spielen gerne Simulations-Computerspiele, auf Laptop, Tablet, Handy und Spielkonsolen. In Maßen, aber doch (in „Dürfen wir fernsehen?“ beschrieben). Sie wirtschaften darin, verdienen Geld, kaufen virtuellen Grund, planen und bauen Häuser. Sie leben Alltag und halten Partys, pflegen Freundschaften und unterhalten sich. Unterhalten sich? Ja, in Sprechblasen. Da lesen sie die Kommentare der simulierten Leute und antworten.

Ich erinnerte mich, dass die Kleinste diese Spiele in ihrer Vorschulzeit spielte, indem ihre größere Schwester ihr vorlas, was die Sims so sagten. Oder dass sie immer wieder zu mir kam, um mich zu fragen, was denn hier oder dort als Anweisung stand, was sie machen sollte. Wir haben immer langsam und mit dem Finger am Buchstaben vorgelesen. Bis sie dann nicht mehr kam und nur mehr spielte.

Ich erinnerte mich, dass die größeren Schwestern der Kleinen Einblendungen und Untertitel in Filmen vorlasen. Auf dem Handy spielen sie auch Wortspiele, Anagramm-, Rechtschreib- und Sprachspiele. Und alle drei sind wortgewandt. Ich lese, wenn freigegeben, in ihren SMS und Chats: da sind wenig Icons dabei, und sie schreiben ganze Sätze. Stimmt die Rechtschreibung wegen der automatischen Fehlerkorrektur? Lernen sie dabei vielleicht sogar?

Kann es sein…

… dass die Kinder heute nicht nur anders lesen lernen als wir damals, sondern dass sie auch einfach ein anderes Leseverhalten haben? Dass sie in der Fülle von Medien – vor der wir noch verschont waren – mehr Angebot haben, sowohl an lesbarer „Hardware“ als auch an angewandten Medien? Nicht nur Bücher, Comics und Zeitungen, sondern eben jetzt auch Filme, Spiele und Apps/ Anwendungen, nicht nur Papier, sondern eben auch Elektronik? Kann es sein, dass ich engstirnig denke, wenn ich mir wünsche, dass jedes meiner Kinder zumindest ein papierenes Buch in zwei Wochen liest?

… dass sich Kinder heute eben einfach nicht mehr für Hanni und Nanni und Fünf Freunde, ja zum Teil nicht mal mehr für Harry Potter und den Hexenkranz, sondern einfach eher für Tagebuchliteratur wie Tom Gates, Greg, Dork Diaries, und für Super Nick, Connie und Konsorten interessierten, weil die -so wie sie selbst- mitten im Leben stehen? Und sich nicht wie Tom Sawyer und Nesthäkchen in der Vergangenheit bewegen?

… dass meine Kinder deswegen gut rechtschreiben, weil sie an den Gebrauch von verschiedenen Medien gewohnt sind, mit denen sie andauernd lesen und schreiben müssen?

… dass meine Kinder vielleicht sogar deswegen auch nicht davor zurückscheuen, sich Anleitungen und Gebrauchsanweisungen durchzulesen, ganz anders als ihre Großeltern?

… dass meine Kinder sehr wohl lesen, und zwar nicht wenig, und ich das in meinen papiernen Gedanken nicht sehe?

… dass man zulassen darf, dass ein Buch auch dann als „gelesen“ gilt, wenn man es als Hörbuch genossen hat?

Das Zeremoniell

Immer, wenn meine Große, die mittlerweile zum Studieren ausgezogen ist, nach Hause kommt, liest sie den Kleinen aus Walter Moers „Käpt´n Blaubär“ vor. Abendelang. Da sind sie schon sehr weit, in Zamonien kennen sie sich alle aus. Ich nicht.

Nicht nur die Art der Lieblings-Literatur, auch das Leseverhalten hat sich mit dem Aufkommen der „Neuen Medien“ geändert. Und meine Kinder können alle flüssig tippen, auf Laptop, Pad oder Handy, ohne Kurs.

Das konnte ich in ihrem Alter nicht. Und: sie lesen ja. Das beweist u.a. auch „Das neue Sprachbastelbuch“ unter dem Kopfkissen meiner elfjährigen Tochter.

Vielleicht muss ich einfach mehr zulassen.

 

Interessant

Mögliche Auswirkungen neuer Medien auf das Leseverhalten und die Gehirnentwicklung (Michael A. Skeide)

Gregs Tagebuch, Dork Diaries und jede Menge Mangas – Anregungen zur Leseförderung anhand von Ausleihzahlen (Helga Arend und Nina Mahrt)

 

Lesen lernen – oder lernen, zu lesen?
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Minds are like parachutes. They only function when they are open.”
Sir James Dewar, Wissenschaftler (1877-1925)
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